Fuck The Norm

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Ab und zu wacht man auf. Ist sich unsicher, wo man ist. Nimmt langsam und verzerrt immer mehr seiner Umgebung wahr. Sein Bett. Seinen Müll. Sein Zimmer. Seine Welt.

Beginnt sich zu erinnern. Traum von Realität zu unterscheiden. Den letzten Abend. Die letzten Stunden. Und denkt einfach nur „Scheiße! Musste ich da wirklich was ranballern? An das Haus?“ Dann denkt man weiter. Erinnert sich immer mehr. „Fuck! Das hab ich auch noch voll gemalt! Da waren hunderpro Kameras! Ich wurde sowas von gesehen. Was ist nur mit mir los?“

Man steht langsam auf. Geht in die Küche. Kaffee. Wach werden. Klar werden.

Während man das Kaffeepulver portioniert, kommen immer wieder Erinnerungsblitze der letzten Nacht. Erschütterungen, die einen zusammenfahren lassen. Üble kleine Zweifel. „Fuck! Nicht da auch noch hingetaggt und dann noch den Typen angemacht, dass er nicht so dumm gucken soll.“

Man verteilt den Kaffee in der gesamten Küche und versucht die Gedanken zurück in den Schädel zu drücken. Ihnen keine Macht zu geben. Dabei bemerkt man die eigenen bunten Hände. Lässt sie langsam vor seine Augen gleiten. Bunt. Geschändet. Verklebt. Der Blick fokussiert sich auf sie. Die begangenen Taten. Verliert sich in ihnen. Reue? Angst? Was ist das für ein Gefühl?

Das Bild beginnt zu vibrieren. Das ganze Blickfeld wird durchgeschüttelt. Die Wahrnehmung verzerrt sich. Erdbeben. Kopfschmerzen. Zweifel. Hass.

Im Kopf kristallisieren sich zwei Existenzen raus. Zwei Blickfelder. Zwei Realitäten. Zwei Welten. Parallelgesellschaften.

In der einen zerstört der Zweifel alles bisher Geschaffene und alles Erlebte ist schlecht. Man selbst ist schlecht. Es ist nicht richtig. Gesellschaftlich nicht anerkannt. Krank. Dumm. Verdorben. Man muss wachsen. Perfektion erreichen. Sich anpassen. Man blickt zitternd nach links. Da stehen die Eltern. Ihre Arme verschränkt. Ihr Blick gesenkt. Kopfschüttelnd. Streng. Man geht einen Schritt auf sie zu. Will in den Arm genommen werden. Zuneigung. Akzeptanz. Man fühlt sich alleine und verlassen. Doch sie gleiten immer weiter von einem weg. Die Schritte häufen sich. Werden schneller. Verzweifelter. Doch egal wie schnell man rennt, man kann sie nicht erreichen. Die ausgestreckte Hand greift immer wieder ins Leere.

Wütend. Verletzt. Verloren. Man bleibt stehen. Wendet sich ab. Schaut nach rechts. Wo sich ein Lehrer vor einem aufrichten. Ein Riese mit ernstem Blick und Macht über ein gesamtes Leben. Eine Zukunft.

Stein für Stein baut sich eine Arena um einen. Der Boden wird zur Blut getränkten Erde. Von weit oben, auf der Kaiserloge, blickt der Lehrer auf dich herab. Hebt eine Hand. Lässt ein weißes Tuch fallen. Ein Lächeln auf seinen Lippen. Abscheu und Ekel in den Augen.

Stimmen um einen herum fangen an zu lachen. Werden immer lauter. Hallen im eigenen Schädel immer und immer wieder. Sie beginnen zu krakeelen. Zu skandieren. „Tötet ihn! Tötet ihn!“ Ein unfairer Kampf in einer viel zu alten Arena. Zum Scheitern verurteilt.

Tore öffnen sich. Schwere Kette ziehen sie aus der Erde gen Himmel. Mit donnernden Schritten formiert sich eine Horde von Zahlen um einen. Schwer bewaffnete Noten, welche dich einkesseln und ihre Klingen an deine Kehle halten.

Hilflos steht man vor der Klasse. Umklammert sein Werk der letzten Nächte. Auf ein paar DIN A4 Seiten mühevoll zusammen getragen. Neben Freundeskreis und Pflichtbewusstsein. Neben Leben und Genügen. Buchstaben verschmiert von Schweiß und Tränen. Doch es kann nicht genügen. Nicht wenn man leben will. Wenn man sein will. Wenn man wirklich lernen will. Der Klassenraum wird immer größer. Der Lehrer und die Mitschüler wachsen zu Göttern des Systems. Oder es wirkt nur so. Man wird kleiner. Schrumpft. Verliert sich zwischen Staub und Unrat. Verschwindet.

Im anderen Bild, der zweiten Welt, steht man nur da. Inmitten einer endlosen, erbarmungslosen Dunkelheit. Eine kleine, alte Glühbirne schwenkt leicht über dem Kopf hin und her.

Man beginnt zu weinen. Mimik starr und unverändert. Fast statuenhaft und leblos. Nur Tränen, die einem über die Wangen laufen.

Man bricht zusammen. Fällt auf seine Knie. Unter Tränen hämmert man auf den Boden ein. Immer wieder treffen die Fäuste den harten unnachgiebigen Stein. Man ignoriert das ausströmende Blut. Die immer neuen aufplatzenden Wunden. Das zerberstende Fleisch. Brechende Knochen. Den unendlichen Schmerz. Ignoriert alles.

Und dann geht’s los. Man hört auf, auf den Boden einzuschlagen. „Du bist das Beste, was dir je passieren wird. Du bist der Einzige, der was draus machen kann.“ Erkenntnis und Eifer überfluten einen. „Man besteht aus Erinnerungen. Also mach dich unsterblich.“ Kämpfe! Lebe! Sei wild, frech und frei. Man muss sich durchboxen. Durch die Zweifel. Durch die Ängste. Kämpfen. Eine eigene Realität finden. Eine Norm. Ein Sein.

Man steht alleine da. Keine Eltern. Keine Lehrer. Das ist das eigene Leben. Eigene Erfahrungen. Eigene Werte. Eigene Entscheidungen. Eigener Kampf. Ohne Belehrungen. Ohne Noten. Der eigene Weg. Mit eigenen Fehlern. Eigenen Lehren.

Verächtlich blickt man zur anderen Welt. Der anderen Realität. Ballt die Fäuste. Blut bereits eingetrocknet. Man tritt näher heran. Schlägt gegen die massive Scheibe, die einen von ihr trennt. Erschrocken huscht das andere Ich zusammen. Verunsichert. Ängstlich. Weiß nicht, was zu tun ist. Doch man schlägt weiter gegen die Scheibe. Nicht um Aufmerksamkeit zu erregen. Die hat man sowieso.

Noch ein Schlag. Die Finger zucken vor Schmerz. Pulsieren. Die verkrusteten Wunden brechen wieder auf. Das war das Ziel. Die blutverschmierte Hand gleitet zur Scheibe. Man spürt die Kälte der Scheibe. Den Schmerz, der sich von den Fingerkuppen über die ganze Hand, den ganzen Arm, den ganzen Körper ausbreitet. Wischt entschlossen und zielgerichtet über sie. In großen Lettern schreibt man „Fick dich!“ an die Scheibe. Die Zweifel darüber verschiebt man auf morgen.

Der Kaffee ist durchgelaufen. Zucker süßt ihn. Rühren und Pusten kühlen ihn ab. Schluck für Schluck wärmt er einen. Weckt einen. Das ist keine Schlacht für einen Tag. Das war auch nicht die erste. So wie es auch nicht die letzte war. Der Weg ist noch weit. Noch nicht alle Komplexe abgebaut. Noch nicht alle Traumata bewältigt. Nur ein Morgen. Nur ein neuer Tag. Aber ein Schritt nach vorn. Ein Schritt zu sich selbst. Dem wahren Ich.

Fuck the norm.